Born to glide
 

Tabu

 

Ein Essay aus dem SchlechtfliegerMagazin Nr. 27 im Herbst 2008

 

Author: Markus Haubt

 

 

Ich denke das Risiko ist nicht nur ein notwendiges Übel, sondern ein wesentlicher Bestandteil unserer Sportart, ohne den diese nicht wäre was sie ist. Ich will hiermit einen Denkanstoß geben und vor allem dazu anregen, dieses Thema künftig offener und tiefgreifender zu diskutieren.

 

Diesen Artikel schreibe ich vor allem aus einem Grund: Es gibt Themen, die sind in unserer Fliegerszene nur schwer anzusprechen. Jedes Mal, wenn ich dies versuche, geht die Resonanz gegen null, man blickt in eine Reihe betretener Mienen, vielleicht vereinzelte vorsichtige Zustimmung oder auch Ablehnung, ausführliche und konstruktive Diskussionen entwickeln sich so gut wie nie. Ich denke, wir haben es hier mit einem klassischen Tabu zu tun. Auch wenn die folgende Argumentation genau das Gegenteil zu vermitteln scheint, die Quintessenz dieses Artikels soll eine positive sein. Ich will aufzeigen, welch immensen Nutzen man gewinnen kann, wenn man gewisse Tatsachen um unseren Begriff des Risikos für sich akzeptiert und aufarbeitet.

 

Das Wesen des Risikos

 

Die grundlegende Frage, die ich hier aufwerfen will, lautet: Welchen Stellenwert nimmt eigentlich das Risiko in unserem Sport ein? Welche Funktion erfüllt das Risiko in unserem Sport? Wer diese Frage vernünftig beantworten will, muss sich fast schon in den eher philosophischen Gesamtrahmen seines Lebens, seines Daseins begeben.

Meine Antwort lautet: Das Risiko ist nicht nur ein notwendiges Übel und Beiwerk unseres Sports. Es ist nicht nur der Faktor, den es mit allen Anstrengungen zu minimieren, am besten ganz auszuschließen gilt. Wann immer ich mir die Frage überlege, warum Menschen fliegen - dann komme ich zu der Erkenntnis, dass das Risiko hierbei für uns eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt.

Wenn man Piloten nach ihrer Grundmotivation fragt, danach, was für sie den Reiz dieses Sports ausmacht, was sie darin suchen, so hört man meist Antworten wie: Die Verwirklichung des alten Menschheits- oder Kindheitstraums vom Fliegen, der „gewisse Kitzel“, der „Kick“, das unbeschreibliche Gefühl der Freiheit und des schwerelosen Dahingleitens, usw.; meiner Meinung nach sind dies alles nur euphemistische Umschreibungen der eigentlich sehr banalen Kernaussage, deren Übersetzung lautet, dass wir das Risiko zu einem gewissen Grad auch suchen.

Überlege ich mir diese Beschreibungen ein wenig tiefer, stelle ich fest, dass ihnen allen ein wesentlicher Reiz zugrunde liegt – der Reiz des Besonderen. Man tut etwas, dass nicht jeder zu tun im Stande oder gewillt ist. Etwas, dass nur wenigen Menschen vorbehalten bleibt. Etwas, für das wir nicht geschaffen sind. Der uralte Traum vom Fliegen, er besteht für mich genau hierin. Wir stürzen uns einen Abhang hinunter, unter uns nur noch 1000m gähnende Tiefe. Und es würde an ein Wunder grenzen, wenn wir diese 1000m nicht wie ein Stein gen Erdboden rasten und im Resultat unser Lebenslicht aushauchten. Dieses Wunder jedes Wochenende aufs neue zu vollbringen, darin besteht dieser Traum. Und es wäre kein Wunder, nichts besonderes mehr, wenn dies jeder tun könnte, wenn es alltäglich und einfach wäre.

Wenn ich dies alles nun sacken lasse, gelange ich zu der Erkenntnis, dass ich nicht nur ein gewisses Risiko in diesem Sport brauche, um diesen so einzigartig wahrnehmen zu können wie wir dies nun mal tun. Nein, ich brauche sogar ein relevantes Maß an Risiko. Ein Maß an Risiko, das geeignet ist, eine hinreichende Anzahl Menschen davon abzuhalten diesen Sport auszuüben und unserer Fliegerei weiterhin den Status des absolut Besonderen, des Außergewöhnlichen zu sichern.

 

Unsere Wahrnehmung des Risikos

 

Seit ich fliege habe ich mit sehr vielen Piloten über alle möglichen Aspekte unseres Sports gesprochen. Ich glaube, dass genau an dieser Erkenntnis viele Piloten scheitern. Anzuerkennen, dass wir nun mal einen riskanten Sport treiben und dass wir dabei unter Umständen in nicht unerheblichem Maße Schaden nehmen, ja sogar das Leben verlieren können. Jeder Mensch hat eine ganz individuelle Risikohemmschwelle. Beim einen liegt diese höher, beim anderen niedriger. Im Durchschnitt, pauschal über die Gesamtheit aller Ausübenden betrachtet, pendelt sich das Risiko immer bei in etwa dem gleichen Wert ein. Wenn ich in die Statistiken der verschiedensten Risikosportarten schaue, so liegen die Unfallzahlen meist in vergleichbaren Größenordnungen. Man könnte auch vermuten, ein gewisses Maß an negativen Vorfällen und Berichterstattung wird allgemein akzeptiert, wenn auch nur eben sehr unterbewusst.

Das entscheidende für mich ist, sich dieser eigenen Risikohemmschwelle bewusst zu werden. Viele Piloten höre ich sagen: „Das Risiko versuche ich so weit als möglich zu drücken.“ Sehr häufig wird gar geglaubt: „Ich gehe keine unnötigen Risiken ein.“ Warum fliegst Du dann überhaupt? Ich treffe viele Piloten, die mir glaubhaft versichern, diesen Sport nur wegen der schönen Aspekte zu betreiben. Jegliche Art des bewussten Eingehens von Risiken, wie dies etwa ein Akroflieger tut, liegt ihnen ferner als alles andere. Ich kann diese Einstellung gut nachvollziehen. Nur ist das Problem: Genau dieses Risikobewusstsein bräuchte es, um wirklich die Sicherheit zu erreichen, die man für sich individuell anpeilt. Egal, wo man für sich die Hemmschwelle legt, allein mit der Entscheidung für das Fliegen geht man bereits ein Risiko ein. Und dieses ist alles andere als gering. Und es ist genaugenommen unnötig.

Interessanterweise sind es gerade die besonders risikofreudigen Piloten, die mit diesen Fragen viel aktiver umgehen. Die genau wissen, dass sie für ihre Art der Fliegerei, sei es Akro-, Strecken- oder sonstwie extravagantes Fliegen, einen Preis zahlen, den eines gewissen Risikos. Diese Piloten können dieses Risiko meist sehr genau dosieren, sie ergreifen geeignete Maßnahmen, um trotz eines augenscheinlich wesentlich riskanteren Flugstils ihr individuelles Risiko in dem Rahmen zu halten, den sie für sich akzeptieren können. Einem Rahmen, der gleichzeitig den Status des Besonderen sichert.

Ich will dies am eigenen Beispiel erläutern. Auch ich lasse seit Beginn meiner Fliegerei keine Gelegenheit aus, meine Flugsicherheit und meine flugtechnischen Fertigkeiten zu erhöhen und auszubauen. Mittlerweile jedes Jahr ein bis zwei Sicherheits- oder Akrotrainings, intensive Auseinandersetzung mit meiner Sicherheitsausrüstung, vor allem der Rettung - was man eben so tut fürs Gewissen. Über solcherlei Aspekte kann man mit fast allen Piloten auch ellenlange Diskussionen führen, da ist jeder interessiert. Ich denke schon, für mich sagen zu können, dass ich mein Absturzrisiko – also das Risiko, mit unkalkulierbaren und möglicherweise schwerwiegenden Folgen einfach vom Himmel zu fallen - bewusst und aktiv seit Jahren sehr gering halte. Gleichzeitig aber – und dies ist für mich kein Widerspruch – suche ich in bestimmten Situationen das Risiko, und zwar in einer möglichst überschaubaren und kalkulierbaren Form. Wenn ich beim Soaring im Tiefstflug dynamische Kurven ziehe, unnötigerweise mehrfach in schwierigem Gelände toplande, dann ist es eben genau diese Mutprobe, die Möglichkeit eben doch mal etwas unsanfter in Bodenkontakt zu geraten und sich dabei einige Gräten zu brechen, die ich suche. Ich ignoriere in diesem Fall bewusst die alte und praktisch immer gültige Flugregel „Höhe und Geschwindigkeit sind Sicherheit“. Ich mache, so paradox das klingen mag, ganz bewusst fast jede antrainierte „Sicherheit“ wieder zunichte, um – ja warum eigentlich? Um das Besondere und Außergewöhnliche zu erleben, um besonders oder gar einzigartig zu sein, es ist so banal. Und ich denke, fast jeder hat gleichartiges schon mal getan, wenn vielleicht auch in deutlich gemäßigterer Form. Jahrelang ausgebildet, mental trainiert, recherchiert, diskutiert und dann: Eben doch mal den A-Gurt runtergezogen und die Kiste zerlegt, doch mal absichtlich in die Leethermik abgebogen. Bewusst eine riskante Situation herbeigeführt, wo man doch jahrelang alles daran setzte, das Risiko zu minimieren. Es muss gar nicht immer so krass sein. Jede fliegerische Weiterentwicklung beinhaltet das Generieren und Eingehen neuer Risiken, eventuell sogar mit dem Ziel der künftigen Risikominimierung, wie das Beispiel des provozierten Klappers zeigen soll. Und damit sind wir beim nächsten Kapitel.

 

Warum brauchen wir das Risko?

 

Das bisherige Resümee meiner Überlegungen lautet: Ich brauche nicht nur ein gewisses vernachlässigbares Restrisiko, um diesen Sport als etwas Besonderes erleben zu können. Es muss ein relevantes Maß an Risiko da sein, eine realistische Chance, sich dabei auch mal ordentlich weh zu tun. Jeder von uns braucht dieses für ihn relevante Maß, behaupte ich. Nur jeder von uns definiert diese Grenze für sich anders. Für viele beinhaltet allein die Tatsache, überhaupt zu starten und zu fliegen, egal wie, schon genügend relevantes Risiko, um dieses Erlebnis des Besonderen, der Überwindung zu empfinden. Und es gehört für mich zur grundlegenden Freiheit jedes Menschen, diese Schwelle für sich ganz individuell zu definieren und entsprechend zu leben. Es ist auch eine grundlegende Frage von Toleranz, zu akzeptieren, dass andere ihre Schwelle anders definieren. Dass wir sie nicht als Draufgänger oder Lebensmüde abstempeln und verurteilen, wenngleich man in Einzelfällen auch diesen Typus antrifft.

Die folgenden Gedanken zur Motivation dieser Risikosuche mögen den ein oder anderen künftig zu mehr Toleranz in dieser Hinsicht anspornen. Mich bestürzt es, wenn ich Piloten treffe, die sich der Risiken, die sie eingehen, nicht bewusst sind, insbesondere wenn sie dies im schlimmsten Fall erst feststellen nachdem ihnen etwas zugestoßen ist. Daher müssen wir akzeptieren, dass wir diese Risikosuche unter Umständen mit einem Preis bezahlen müssen. Wenn es soweit ist sollten wir uns nicht beklagen.

 

Ich bin leidenschaftlicher Hobbyphilosoph, der Begriff Möchtegernphilosoph trifft es vielleicht sogar noch besser. Jedes Mal, wenn ich über die grundlegenden Aspekte unserer Fliegerei nachdenke, gerate ich automatisch in diesen sehr weitgefassten philosophischen Rahmen. Man sollte sich die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen, um sich seiner ganz persönlichen Motivation bewusst zu werden. Wir haben gesehen, dass dieser Sport einige sehr negative Aspekte besitzt, Risiken, Gefahren, und all dies auch noch in durchaus relevantem Maße. Und dass wir sogar Gefahr laufen, diese unterbewusst zu suchen und herauszufordern. Die Frage also lautet, was macht es uns wert, so viel ein- oder aufs Spiel zu setzen?

Meine Überlegungen führten vor allem zu der Erkenntnis, dass wir Menschen uns von den Tieren im wesentlichen dadurch unterscheiden, dass wir uns nicht nur durch die streng darwinistische Evolution, also durch Fortpflanzung verbessern. Ein Tier als Individuum hat praktisch keinerlei Möglichkeit, sein Dasein, geschweige denn das seiner gesamten Art durch individuelles Wirken zu verbessern. Der Mensch kann dies. Die Geschichte brachte immer wieder einzelne Personen hervor, die durch ihr individuelles Wirken sogar das Los der Menschheit insgesamt maßgeblich verbessert haben. Und ein entscheidender Aspekt war hierbei fast allen gemeinsam: Sie haben hierfür enorm viel riskiert und aufs Spiel gesetzt. Sie haben Grenzen überschritten, alte Dogmen und Regeln missachtet oder in Frage gestellt, ihre Reputation oder gar ihr Leben für den Fortschritt eingesetzt. So gut wie alle waren sich damals einig, dass Christopher Kolumbus über den Rand der Erdscheibe hinaussegeln und direkt in die Hölle plumpsen würde, als er von Europas Küste in See stach. Und ohne Otto Lilienthal, der seinen Traum vom Fliegen mit dem Leben bezahlte, würden wir heute noch mit Dampfern über die Meere setzen. Wir könnten auch unseren Sport in der heutigen Form nicht so ausüben, wenn in dessen Anfängen nicht eine Reihe von Piloten erheblichste Risiken auf sich genommen und diese oft genug auch bezahlt hätten.

Der geneigte Leser mag hier nun wieder einhaken und fragen, welchen Nutzen die Menschheit denn noch aus der heutigen Sportfliegerei ziehen könnte? Wohl sehr wenig. Um den bekanntesten Vertreter einer anderen Risikosportart, nämlich Reinhold Messner zu zitieren: Wir betreiben „die Eroberung des Unnützen“ – so scheint es zumindest. Begibt man sich aber wieder zurück vom globalen auf den persönlichen Rahmen, so entdecke ich auch wichtige persönliche Profits. Viele Menschen streben in ihrem Leben vor allem nach einem Ziel, auf das sich fast jeder einigen kann: Das Streben nach Weisheit, irgendwann einmal dazustehen und ein umfassenderes Verständnis seines Daseins zu haben. Und das Fliegen halte ich – der eine oder andere mag dies als vermessen bezeichnen – für eine geniale Erkenntnisquelle und Hilfe auf diesem Weg. Alleine, dass ich nun diese Zeilen hier schreiben und reflektieren kann, ist ein Resultat meiner Fliegerei.

Wenn wir aus unserem fliegerischen Tun auch keinen direkten Nutzen für das Weiterkommen unserer Art ableiten können, so zeigen mir diese Gedanken doch, dass das bewusste und kalkulierte Eingehen von Risiken wohl ein Grundzug, eine sehr positive Fähigkeit der Menschen ist, die uns überlegen macht. Und die Fliegerei schult diese Fähigkeit wie kaum eine andere Betätigung. Sie bringt uns diese außergewöhnliche Fähigkeit zu Bewusstsein – wenn wir es zulassen und diesen Aspekt eben nicht verdrängen.

„Nur wer wagt, gewinnt“ – ich halte viel von Sprüchen, die sich über Generationen gehalten haben. Sie beinhalten oft viel Wahrheit und transportieren diese in kommende Generationen weiter. Und diesen Spruch halte ich für besonders würdig, dass wir uns über ihn einmal Gedanken machen. Jeder für sich am besten. Wir wagen und wir gewinnen. Wir gewinnen unglaubliche Eindrücke, Perspektiven, die keiner außer uns genießen kann, das Gefühl des schwerelosen Gleitens und einer grenzenlosen Freiheit, wie sie nur wenige außer uns erleben dürfen. Mir persönlich am wichtigsten ist aber der Gewinn von Erkenntnis. Für mich sind das Wagnis, das bewusste Eingehen von Risiken und der Gewinn, den ich hierdurch erziele, komplementäre Begriffe. Das eine geht nicht ohne das andere. Yin und Yang.

 

 

Fazit

 

Ich erlebe viele Piloten, die nicht mit sich im reinen sind, die ganz offensichtlich mit sich und negativen Bedenken aus ihrem Bauchraum zu kämpfen haben. Piloten, die häufig nicht in der Lage sind, sich dieser Bedenken bewusst zu werden, ganz zu schweigen davon, diese auch mal offen auszusprechen. Man muss dazu nur mal Piloten bei ihren Startvorbereitungen beobachten. Es hilft nichts, sich einzureden, dass man nur ein Weichei sei, am besten mit dem Argument, dass ja alle anderen auch fliegen und sich raushauen – die Szene nennt dies treffend den Lemmingeffekt. Dieser uns allen so bekannte Effekt beruht auf nichts anderem als dem Phänomen einer gigantischen Massenverdrängung. Zu erkennen, dass das eigene Unbehagen und die eigene Selbsteinschätzung die maßgeblichen Kriterien sind, auch wenn diese der Mehrheit scheinbar widersprechen – dazu gehört mehr, als viele jetzt vielleicht denken.

Ich würde mit diesem Artikel gerne dazu motivieren, ein Klima, eine Gesprächsatmosphäre, ein Bewusstsein in der Szene zu schaffen, das es ermöglicht, auch über das Risiko ungezwungen zu reden. Ich möchte jeden dazu ermutigen, vor allem zu seinen Bedenken und Ängsten zu stehen, sich diese nicht nur bewusst werden zu lassen, sondern auch offen anzusprechen. Denn nur dann bietet sich die Gelegenheit, sein individuell akzeptables Risiko überhaupt definieren zu können. Erst dann kann ich auch bewerten, ob meine Art der Fliegerei mein persönliches Sicherheitsbedürfnis auch hinreichend befriedigt.